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Ausstellung

Die algorithmische Revolution

Die Geschichte interaktiver Kunst

So, 31.10.2004 – So, 06.01.2008

© ZKM | Karlsruhe

Normalerweise liegt eine Revolution vor uns und kündigt sich mit »Getöse« an. »Die Algorithmische Revolution« dagegen liegt bereits hinter uns und nur wenige haben sie bemerkt – umso wirkungsvoller ist sie gewesen. »Die Algorithmische Revolution« begann um 1930 in der Wissenschaft, um 1960 in der Kunst. Inzwischen gibt es kaum noch einen Bereich unseres gesellschaftlichen und kulturellen Lebens, der nicht von Algorithmen durchdrungen ist: Technik, Transport, Haushalt, Banken, Wirtschaft, Kommunikation, Architektur, Literatur, Kunst, Musik.
 
Unter einem Algorithmus versteht man eine Entscheidungsprozedur, eine Handlungsanweisung, die aus einer endlichen Menge von Regeln besteht, eine endliche Folge von eindeutig bestimmten Elementaranweisungen, die den Lösungsweg eines spezifischen Problems exakt und vollständig beschreiben. Der wohl bekannteste Einsatz von Algorithmen ist deren Umsetzung in der Computerprogrammierung. Ein Programm ist ein Algorithmus, der in einer Sprache formuliert ist, welche die Abarbeitung durch einen Computer ermöglicht. Jedes Computerprogramm (eine höhere Maschinensprache) ist also ein Algorithmus. Der Mensch hat die Abarbeitung von Erzeugungs- und Entscheidungsverfahren, z.B. tage- und stundenlanges Rechnen, in eine Maschine, die Rechenmaschine, ausgelagert. Parallel zur Entwicklung der Rechenmaschinen wurden daher auch immer präzisere Programmierungen notwendig. In den letzten Jahrzehnten sind Algorithmen vor allem in der Informatik, der Komplexitäts- und der Berechenbarkeitstheorie zu einem zentralen Thema geworden. In Form von Computerprogrammen und elektronischen Schaltkreisen steuern Algorithmen Computer. Der erste für eine mechanische Rechenmaschine konzipierte Algorithmus (für die Berechnung von Bernoulli-Zahlen) wurde 1842-1843 von Ada Lovelace in ihren Notizen zu Charles Babbages Analytical Engine (1833) niedergeschrieben. Weil jedoch Babbage jene »Analytical Engine« nicht vollenden konnte, wurde Lovelaces Algorithmus nie darauf implementiert.
 
Die mangelnde mathematische Genauigkeit in der gängigen Definition eines Algorithmus störte viele Mathematiker und Logiker des 19. und 20. Jahrhunderts. A.A. Markow schuf 1906 eine generelle Theorie stochastischer Prozesse bzw. Zufallsprozesse durch seine so genannten Markow-Ketten, die 1936 von A. Kolmogorow generalisiert wurden. Diese repräsentieren das mathematische Modell eines Prozesses ohne Gedächtnis, der ein physikalisches System beschreibt, wenn die Wahrscheinlichkeit des Übergangs in einen anderen Zustand nur abhängig ist vom Zustand des Systems zu einem gegebenen Zeitpunkt und nicht von der vorangehenden Geschichte dieses Prozesses. Die Übergangswahrscheinlichkeit für den Zustand zum Zeitpunkt »t+1« ist nur abhängig vom Zustand zum Zeitpunkt »t«. Markow-Ketten erlauben das Studium von Sequenzen wechselseitig abhängiger Variablen nach Gesetzen der Wahrscheinlichkeit, sind also Sequenzen von Zufallsvariablen in denen die künftige Variable abhängig ist von der gegenwärtigen Variablen aber unabhängig vom Zustand ihrer Vorgänger.
Diese Theorie stochastischer Prozesse konnte Ende der 1950er und Anfang der1960er Jahre auch erfolgreich auf die stochastische Erzeugung von Poesie und Musik, also auf Zufallsmusik und Zufallstexte angewendet werden. Der Begriff des algorithmischen Zufalls wurde als ultimative Definition des Zufalls akzeptiert und führte durch Kolmogorow, Chaitin und Solomonow zur Begründung einer Algorithmischen Informationstheorie. Schon um 1930 wurde der intuitive Begriff der Berechenbarkeit bzw. des Algorithmus mathematisch präzisiert. Die Arbeiten von Kurt Gödel, Alonzo Church, Stephan Kleene, Emil L. Post, Jacques Herbrand, Alan Turing haben gezeigt, dass alle formalen Fassungen des Begriffs der Berechenbarkeit gleichwertig sind und als Präzisierung des Begriffs Algorithmus angesehen werden können. Algorithmen sind also älter als Computer, obwohl ihr bekanntestes Einsatzgebiet in den letzten siebzig Jahren die Umsetzung in der Computerprogrammierung ist. Die Computer dienen der Abarbeitung von immer komplexeren Algorithmen. Jedes Problem, das programmierbar ist, ist mit jeder heutigen Programmiersprache algorithmisch lösbar. Eine der vermutlich bekanntesten Problemlösungen ist das 1936 von Alan Turing (1912-1954) entwickelte Konzept der »Turing-Maschine«, die aus einem unendlich langen Speicherband, einem Schaltwerk und einem programmgesteuerten Lese- und Schreibkopf bestehend, sämtliche mathematischen Grundfunktionen simulieren kann, und darauf aufbauend wiederum alle restlichen vorhandenen mathematischen Funktionen erzeugen kann. Ein Computer kann also als eine Implementierung der »Turing-Maschine« angesehen werden. Mit Nullen und Einsen operierend ist er in der Lage, die komplexesten Dinge zu berechnen.
 
Die Umsetzung von Algorithmen auf einem Computer geschieht in der Form der Programmierung des Computers, auch »Codierung« genannt. Algorithmen werden seit Jahrhunderten auf intuitive Weise in Form von Regelsystemen, Instruktionen, Spielvorschriften, Plänen und Partituren in der Architektur und der Musik verwendet. In der Bildenden Kunst sowie in der Musik sind Algorithmen als Instrumente der Kreation schon lange von großer Bedeutung. Bereits die Künstlerbücher der Renaissance, wie zum Beispiel Leon Battista Albertis Traktat »De re aedificatoria« (1452), Piero della Francescas »De prospectiva pingendi« (um 1474) oder Albrecht Dürers illustriertes Buch »Underweysung der Messung« (1525) waren nichts anderes als Handlungsanweisungen zur Herstellung von Gemälden, Skulpturen und Gebäuden. Von Bach bis Mozart, von Schönberg bis Schillinger sind mathematische Hilfsmittel und sogar kleine mechanische Maschinen zur Herstellung musikalischer Kompositionen bekannt. In der modernen Musik spielen serielle und statistische Prozesse, aleatorische und stochastische, permutative und kombinatorische, rekursive und fraktale Arbeitstechniken und Algorithmen eine zentrale Rolle, und zwar nicht nur im intuitiven, sondern auch im präzis-mathematischen Sinne. In der modernen Kunst kann man zwei Anwendungen des Algorithmus unterscheiden: die intuitive (z.B. Fluxus) und die exakte (z.B. Computer-Kunst). Zwischen beiden Anwendungsbereichen gibt es Annäherungen und ein gemeinsames Bewusstsein. Der Fluxuskünstler George Brecht produzierte eine Arbeit mit dem Titel Universalmaschine, eine klare Anspielung auf den Computer als »universal machine«. Dick Higgins, ebenfalls Fluxuskünstler, publizierte 1970 die Schrift »Computer for the Arts« mit einer Maschinenpartitur für Computermusik von James Tenney (Text von Higgins). Schon 1962 beschäftigte sich ein Text von Umberto Eco mit dem Wechselspiel von Zufall und Programmierung unter dem bezeichnenden Titel »arte programmata«, und 1969 sprach der italienische Architekt Leonardo Mosso bereits von einer »architettura programmata«. Die intuitive Anwendung der Idee des Algorithmus führte in den analogen Künsten (Op-Art, Kinetik, Fluxus, Happening) zu mechanischen und manuellen Praktiken des Programmierens, der Handlungsanweisung, der Interaktivität und Virtualität. Parallel zur Entwicklung der Rechenmaschinen und Maschinensprachen und ihren algorithmischen Prozeduren setzten sich um 1960 auch in der analogen Kunst, von der Malerei bis zur Skulptur, intuitive Algorithmen in Form von Gebrauchs- und Handlungsanweisungen durch. In Fluxus, Happening und Performance wurde das Objekt der Malerei oder Skulptur durch Handlungsanweisungen ersetzt. Der Gebrauchsgegenstand wurde durch die Gebrauchsanweisung ersetzt, die implizit jeden Gegenstand schon immer begleitet hat, aber auch durch schrittweise Handlungsanweisungen für Ereignisse. Dies führte zur expliziten Integration des Rezipienten. Auch die neuen Tendenzen der frühen 1960er Jahre, Op-Art, Kinetik, Arte Programmata, haben den Betrachter als wesentlichen Bestandteil in die Konstruktion des Kunstwerkes involviert. Bewegungsveränderungen des Beobachters in der Op-Art, manuelle Eingriffe in Bilder und Skulpturen, maschinelle Bewegungen von Elementen, Drücken auf Knöpfe und Tasten in der kinetischen Kunst bildeten frühe mechanische Formen der Interaktivität lange vor dem künstlerischen Einsatz der Computer. Die Kunstwerke wurden dem Zufall ausgesetzt oder durch den Betrachter manuell oder maschinell steuer- und programmierbar, also algorithmisch. Bilder nach Programmen, ebenso wie interaktive und virtuelle Beziehungen zwischen Werk und Betrachter gab es schon vor dem digitalen Zeitalter, sowohl in der Op-Art als auch in der Kinetik.
Damit, und nicht erst mit der technischen Schnittstelle, beginnt die Geschichte der interaktiven und virtuellen Kunst.
Die exakte Anwendung der Idee des Algorithmus führte in den digitalen Künsten zeitgleich zu berechenbaren und elektronischen Praktiken des Programmierens, der Handlungsanweisung, der Interaktivität, der Virtualität. Computer und avancierte Schnittstellentechnologien leisteten die Abarbeitung von immer komplexeren Algorithmen, das heißt, die Darstellung immer komplexerer Datenwelten. Daraus entstanden die Möglichkeiten der digitalen Künste, von der Computergrafik über CAD-Systeme zur Software-Art, die weit über die diesbezüglichen Möglichkeiten der analogen Künste hinausgingen. Die Ausstellung »Die Algorithmische Revolution« führt erstmals den Algorithmus als Verbindung zwischen den analogen und digitalen Künsten in den Diskurs ein. Sie zeigt ein neues Modell des Wechselspiels zwischen analogen und digitalen Künsten im Zeichen einer intuitiven oder exakten Anwendung des Begriffs Algorithmus. Die ästhetische Wende zur Rezeptionskultur und den rechnenden Künsten, die schon lange in den historischen Künsten angelegt war, wurde erst durch den Computer deutlich erkennbar. Wenn in der algorithmischen Architektur Entscheidungsprozeduren bei der Raumgestaltung algorithmischen Prozessen überlassen werden, wie sie von der industriellen Software der 3-D-Programme angeboten werden, wenn in der algorithmischen Literatur und Musik die Texte bzw. Kompositionen sich zum Teil selbst, d.h. automatisch erzeugen, dann bedeutet dies eine radikale Abhängigkeit des Kunstwerkes von der Maschine bzw. deren Programmen oder von den Interaktionen des Menschen als Betrachter oder von beiden zusammen. Da das berechenbare Bild, die berechenbare Literatur, die berechenbare Architektur sowie die berechenbare Musik entweder von autonomen Entscheidungen des Programms oder des Betrachters abhängig sind, ist das Auftauchen einer algorithmischen Kunst fast mit einer anthropologischen Wende gleichzusetzen. Sie bedeutet nach Johannes Kepler, Charles Darwin und Sigmund Freud eine weitere narzisstische Kränkung des Bildes des Menschen von sich selbst als autonomes Subjekt, in dessen Mittelpunkt immer noch die Fiktion von Autonomie und ursprünglicher Kreativität steht. Denn in der algorithmischen Kunst wird die Kreativität vom Künstler als Souverän des Kreativen und der Produktion an den Betrachter und Rezipienten übertragen und sogar vom Menschen auf die Maschine. Das Gesetz des Handelns wird dem Künstler durch den Betrachter und dem Menschen durch die Maschine entrissen. An seine Stelle tritt eine automatisierbare Eigengesetzlichkeit des Handelns. Die Romantik der anthropomorphen Entscheidbarkeit und der Souveränität des Individuums wird gedämpft. Der Pythagoräische Traum, die Darstellbarkeit der Welt durch die Verhältnisse ganzer Zahlen, der Traum von Gottfried Wilhelm Leibniz, alle Vernunftwahrheiten auf eine Art von Kalkül zurückzuführen, kulminiert in einer digitalen Philosophie, einem algorithmischen Weltbild, das durch »A New Kind of Science« von Stephen Wolfram (2002) seine bisher aktuellste Ausformulierung fand. Wenn K. G. Pontus Hultén in »The Machine as Seen at the End of the Mechanical Age« (The Museum of Modern Art, New York, 1968, S. 3) Tristan Tzara paraphrasierte, indem er anstelle des Wortes »Dada« das Wort »Maschine« setzte und zu folgender Aussage kam: „No one can escape from the maschine. Only the machine can enable you to escape from destiny.“, dann gilt dies heute im Zeitalter der digitalen »universalen Maschine« (A. M. Turing, 1937) mehr denn je.
 
Die Ausstellung »Die Algorithmische Revolution« stellt unter dem Zeichen der Handlungsanweisung und des Algorithmus eine Klammer her zwischen diversen Kunstbewegungen wie sie bisher nicht wahrgenommen wurde. Op-Art und kinetische Kunst haben Kunstwerke hervorgebracht, die entweder von der Bewegung des Betrachters abhängig sind oder vom Betrachter in Bewegung versetzt werden müssen, um in Erscheinung zu treten. Mit dieser Beobachterabhängigkeit haben sie die Interaktivität der computergestützten Installationen vorweggenommen. Dies ist auch rein formal durch die visuelle Ähnlichkeit von Computergrafik und optischer Kunst ablesbar. Die Handlungsanweisungen von Fluxus, in Buchstaben geschrieben und an ein Publikum adressiert, antizipieren und parallelisieren die Anweisungen, die an Maschinen adressiert und in Ziffern geschrieben sind, die so genannten Algorithmen. Die Ausstellung gibt zum ersten Mal einen Überblick über die Herrschaft der Algorithmen als Erzeugermechanismus in Literatur, Musik, Architektur und Kunst, von den Anfängen in den 1960er Jahren bis zur Software-Art. Sie ermöglicht einen neuen Einblick in eine neue Entwicklung der Kunst.

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